Ein Gespräch mit dem ehemaligen Vize-Kanzler und SPD-Urgestein Franz Müntefering.
Samstagmorgen, 25. Januar 2025, in einer AWO-Begegnungsstätte in Herne. Der Himmel ist grau und es nieselt. Das Wetter passt zum Thema: Es geht um die politische Lage in Deutschland – fünf Wochen vor der Bundestagswahl. Franz Müntefering trinkt Kaffee (schwarz) und ist froh, dass er keinen Social-Media-Account hat. Er blickt mit Sorgen auf die Lage in Deutschland und in der Welt.
Was bereitet Ihnen am meisten Sorgen?
Die Ignoranz mancher, auch in der Politik, in Bezug auf die Probleme der Menschen, und zwar weltweit. Damit meine ich die Klimakatastrophe und viele Notsituation, die Menschen dazu zwingen, zu flüchten und sich retten zu wollen – auch nach Deutschland. Es herrschen Kriege in der Ukraine und in anderen Ländern. Wir leben in großer Ungerechtigkeit. 1948 haben die Vereinten Nationen einen Beschluss gefasst, auf dem unser Handeln basieren muss: Die Gleichwertigkeit aller Menschen. Menschen sind nicht gleich, sondern verschieden. Manche sind sogar absolut ungenießbar. Was uns eint, ist, dass wir alle den gleichen Wert haben. Auf dieser Grundlage haben wir in Europa und in Deutschland viel erreicht. Aber es gibt noch jede Menge zu tun.
In der öffentlichen Debatte wird vieles schlecht geredet. Zurecht?
Wir können ein einigermaßen realistisches Bild zeichnen, wenn wir uns mit anderen Ländern vergleichen. Etwa mit unseren europäischen Nachbarländern. Es gibt guten Grund zu sagen: Wir stehen nicht schlecht da. Es macht keinen Sinn, dass wir uns hochjubeln. Aber wir sind solide aufgestellt und haben uns viel erarbeitet. Und auch unser Zusammenhalt ist hoch. Das klingt komisch, nach dieser gescheiterten Koalition, die uns viel Vertrauen in die Politik gekostet hat. Das hätte anders laufen müssen.
Glauben Sie, dass eine neue Koalition, in der dann die Ampel-Parteien…
Mit dem Glauben ist das so eine Sache. Wir müssen die Wahlergebnisse abwarten. Die demokratischen Parteien – SPD, Grüne, FDP und die Union – werden eine Koalition finden, in der die fragwürdigen Figuren der AfD keinen Platz finden. Daran darf nicht gewackelt werden.
Sie sprechen die Brandmauer an, um die viele fürchten.
Friedrich Merz muss sein Versprechen halten, nicht mit der AfD zu regieren. Das ist versprochen, geschworen. Darauf muss er festgenagelt werden. Seine Kollegen in der Union müssen ihn dazu zwingen. Da gibt es genug Leute, bei denen ich genau weiß, dass sie die Brandmauer nicht in Frage stellen.
Wir Menschen sind entscheidend. Wir müssen unsere Beiträge dazu leisten. Und das geht nur, wenn man Menschen an die Macht wählt, die es mit der Demokratie ernst meinen. Jeder von uns ist aufgerufen, sich für Demokratie einzusetzen. Die Guten müssen sich unterhaken.
Und wenn Sie jemand fragt: Was genau ist denn „gut“?
Ich entgegne dann: Redet euch nicht raus. Man kann das schon erkennen, was gut ist. Bei allen Unterschieden zwischen den demokratischen Parteien: Die Guten berufen sich auf das Grundgesetzt. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist die Grundlage.
Eine Demokratie kann aber nicht nur durch die Regierung bestehen. Sie muss gelebt werden, von uns allen. Von der ganzen Gesellschaft, dazu gehören auch Konstruktionen wie die AWO, die in der Gesellschaft entstehen und die Menschen verbinden. Wenn sie wegfallen, entsteht ein riesiges Loch. Jeder Einzelne ist gefordert. Jeder Einzelne ist jetzt in der Pflicht. Demokratie ist nie fertig – sie muss jeden Tag von uns allen verteidigt werden.
Immer wieder wird diese Zeit mit der Weimarer Republik verglichen.
Diese Demokratie ist gefestigter als in den 1920er Jahre. Ab und zu sollten wir mal innehalten und zurückschauen, was damals passiert ist. Ich habe noch Erinnerungen an damals, als Dreijähriger. Bombenangriffe, Angst, Zerstörung. Ich war erst sechs, als ich meinen Vater kennengelernt habe. Er kam aus der Kriegsgefangenschaft. Ich habe die verkrüppelten Menschen auf der Straße gesehen. Und Hunger habe ich kennengelernt, schrecklichen Hunger. Diese Erfahrung hat mich mein Leben lang begleitet.
Wir leben seit über 70 Jahren in Frieden. Auch dank der Europäischen Union, aus der die AfD laut Wahlprogramm aussteigen will. Wird damit eine Errungenschaft leichtfertig aufs Spiel gesetzt?
Europa ist eine unglaublich gelungene Sache. 1949 wurden die Grenzzäune zu den Holländern zerschnitten. Alte Feindbilder wurden damit überwunden. Ungeheuerlich. Wir wollten Europäer sein. Europa ist heute die demokratischste Region der Welt. Das ist ein Geschenk. Das dürfen wir niemals aufgeben.
Populisten wettern gegen Bürokratie der EU und suchen Vorteile im starken Einzelkämpferstaat.
Demokratie lässt sich nicht mit Egoismus aufbauen. Man muss zusammenarbeiten. Ich verstehe, dass Menschen etwa durch Migration beunruhigt sind. Aber ich habe es ja noch selbst erlebt. Damals haben wir von Vertriebenen gesprochen. Die kamen zu uns und sind auf viel Ablehnung gestoßen. Viele von ihnen waren evangelisch und wir im Sauerland alle katholisch. Ich erinnere mich an einen älteren Nachbarjungen, der eine evangelische Frau heiratete und enterbt wurde. Wenn ich daran zurückdenke. Das waren Zeiten.
Migration – kaum ein Thema spaltet dieses Land so sehr. Was denken Sie darüber?
Wo viele Menschen zusammenleben, gibt es immer wieder welche, die gegen Gesetz verstoßen. Ich habe letztens gelesen, dass in Deutschland fast jeden Tag eine Frau von einem Mann ermordet wird. (Anm. d. Red.: Anbei die aktuelle Statistik des BKA zu Femiziden bzw. Gewalt gegen Frauen). Das müsste groß berichtet werden. Da wird aber mit zweierlei Maß gemessen. Ich dulde keine Gewalt. Jede Gewalttat ist eine Katastrophe. Aber die Herkunft des Täters nimmt in der Öffentlichkeit den größten Raum ein. Natürlich muss sich jeder an unsere Gesetze halten. Da müssen wir streng sein. Auch bei der Überprüfung, wer zu uns kommt. Wir müssen unsere Gesetze anwenden. Es gibt Probleme durch Menschen mit Menschen, und die müssen wir lösen. Wir müssen integrieren, nicht dichtmachen. Wir leben in einer Welt. Es ist lachhaft, dass wir in die ganze Welt reisen und verbunden sind. Und uns trotzdem abschotten wollen. Nochmal: Wir leben gemeinsam in einer Welt.
Auch durch soziale Medien sind wir global eng verbunden. Nicht nur zum Guten, oder?
Ich bin da konservativ. Ich bin jetzt 85 und die 15 Jahre, die ich noch habe, komme ich auch noch ohne soziale Medien aus. Ich glaube, dass die Veränderung des Gedankenaustauschs eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist. Jeder, der will, kann gut informiert sein: mit öffentlich-rechtlichen Medien, Zeitungen, Zeitschriften usw.
Aber vor allem für junge Menschen ist die leichte, spielerische Form der sozialen Medien eine riesige Gefahr, weil sie oft nicht erkennen, was wahr ist. Viele Menschen nehmen alles für bare Münze, was sie in sozialen Medien lesen und bauen darauf ihre Meinung auf. Das ist gefährlich. Ich bekomme manchmal ewig lange Briefe von Menschen, die irgendwas im Internet gelesen haben und ich frage mich immer, wo haben die das bloß her. Es gibt so viele Lügen im Internet. Das erschreckt mich.
Gerade die Kommunikationsfrage muss gelöst werden. Da sehe ich auch die Verbände in der Pflicht: Denn wo können sich Menschen noch versammeln, um ehrlich zu diskutieren, sich zu informieren und auszutauschen? Beim Kaffee trinken bei der AWO zum Beispiel (lacht).
Ich fände Demokratieunterricht in der Schule gut. Dort könnte man Basiswissen über unser System vermitteln und natürlich auch, wie man falsche Nachrichten erkennen kann. Und falsch ist falsch. Das hat mit Meinung nichts zu tun. Lügen müssen enttarnt werden.
Gutes Stichwort. Wir müssen kurz über Donald Trump sprechen.
Was der Trump macht, schrammt an der Demokratie vorbei. So wie er das steuert und wie manche ihm - auch in unserem Land zujubeln - das ist bedenklich. Er wird gewisse Erfolge erzwingen – auf Kosten anderer, etwa ausländischer Staaten. Die Nazis haben das auch so gemacht.
Trump ist kein Demokrat. Er sieht den Staat wie eine große Firma, mit der er maximalen Profit machen kann. Der Hauptpunkt ist materielles Denken. Es geht um Vorteile. Das ist eine riesige Gefahr. Ob eine Demokratie wie in den USA das so einfach schaffen kann, weiß ich nicht. Wir dürfen das in Deutschland nicht nachmachen.
Auch hier wird viel geglaubt, nur weil es im Internet steht.
Die Menschen werden gezielt belogen. Und wer Lügen verbreitet, will Schaden anrichten.
Mit welchem Ziel?
Aufstacheln, Zweifel säen und missbrauchen, dass es Menschen gibt, die unsere Regeln brechen. Ziel ist die Spaltung und Abschaffung der Demokratie.
Wir können diese Situation nicht aussitzen oder uns wegducken. Wir können den Konflikt nicht vermeiden.
Wie einen wir uns?
Unser Hauptthema ist soziale Gerechtigkeit. Und darüber müssen wir sprechen. Menschen müssen sicher sein, dass wir – Politik, aber auch Verbände wie die AWO - ihre Alltagssorgen wahrnehmen.
Soziale Gerechtigkeit ist ein Pfund. Dafür zu streiten – das lohnt sich.