„Wie stellen wir sicher, dass es uns in 15, 20 Jahren noch gibt?“

23.05.2023

Im Gespräch mit Geschäftsführer Uwe Hildebrandt und dem Vorsitzenden Michael Scheffler über das Projekt „AWO Vision 2025“.

Wie kam es dazu, ein Projekt zu starten mit dem Ziel, eine AWO Vision zu entwickeln?

Michael Scheffler:
Wir haben das Thema in der Vergangenheit bereits auf der Agenda gehabt und uns mit Fragen beschäftigt: Wie sind wir aufgestellt? Wo machen wir Sachen gut? Wo lassen wir manche Dinge liegen, weil wir nicht gut verortet sind und wo können wir weitere Angebote entwickeln?
Etwa im Mitgliederverband. Wir kennen die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Sie sinken. Nicht nur bei der AWO auch bei allen anderen Organisationen und Vereinen.

Uwe Hildebrandt:
Das Thema bewegt uns, seit wir gemeinsam die Verantwortung im Verband haben. Wie wollen wir in die Zukunft gehen? Dann kam Corona dazwischen. Wir dachten, die Zeiten beruhigen sich, das Weltgeschehen nimmt wieder seinen gewohnten Lauf. Aber dann begann der Ukraine Krieg, die Inflation stieg und wir haben erkannt, dass es in den nächsten Jahren keinen Normalzustand geben wird. Gerade deshalb müssen wir uns dem Thema widmen.
Es gibt zwei wichtige Punkte: Erstens sind wir auf dem Weg, dass wir mehr Mitarbeitende als Mitglieder haben. Das stellt einen Verband in Frage. Zweitens erleben wir gravierende Umwälzungen in unseren Kernbereichen, etwa durch den Fachkräftemangel. Die vergangenen Jahre waren von Wachstum geprägt. Die AWO konnte aktiv werden, wo Menschen existenzielle Hilfe benötigen: Eingliederungshilfe, Schule, Erziehung, Pflege etc. Diese Situation ändert sich gerade. Die Frage lautet jetzt: Wird es uns gelingen unsere Angebote noch aufrechtzuerhalten und wenn ja, wie? Trotz Arbeitskräftemangel, explodierenden Baukosten und Energiepreisen. Die viel zitierte Zeitenwende wirft neue Probleme auf!

Wie entwickeln wir vor diesem Hintergrund ein Setting für uns als Sozialunternehmen und für den Mitgliederverband? Wir wollen nicht, dass der Mitgliederverband weiter stirbt. Aber wir wissen nicht, was in zwei Jahren ist. Im Moment befinden wir uns in einer Situation, dass es uns ganz gut geht und wir die Krise überstanden haben. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt für die Frage: Wie stellen wir sicher, dass es uns in 15, 20 Jahren noch gibt?


Welche sind die drängendsten Probleme des Bezirks?

Michael Scheffler:
Wir waren uns als Vorstand schon in der ersten Diskussion im Jahr 2020 einig, dass wir mit Blick auf den Mitgliederverband nicht warten können, bis AWO 2025 ausformuliert ist. Wir haben Veranstaltungen und Initiativen auf den Weg gebracht, die sonst nicht stattgefunden hätten. In den Ortsvereinen ist es gut aufgenommen worden, dass wir als Bezirk Impulse setzen. Wir werden die Ortsvereine nicht allein lassen. Der Bezirk hat ein Interesse daran, die Infrastrukturen vor Ort zu stärken.

Uwe Hildebrandt:
Wir stellen fest, dass Menschen sich nach wie vor engagieren wollen. Aber nicht in den alten Strukturen in Funktionärsstellen, also in einer Verpflichtung ohne Enddatum als Schriftführer, Kassierer oder Vorsitzender. Die Gesellschaft ändert sich. Auch darauf finden wir Antworten. Kann es nicht auch ein Supporter oder eine Ortsvereinsgruppe sein? Auf jeden Fall werden wir als Bezirk mehr Verantwortung übernehmen müssen, denn die Ehrenamtlichen sind darauf angewiesen, dass sie von uns bestärkt und begleitet werden.

Michael Scheffler:
Es gehört auch dazu, dass wir uns als Bezirksverband im vergangenen Jahr Mühe gegeben haben, viel stärker als politscher Verband aufzufallen; etwa mit einer Kunstaktion in Herne gegen die Fußball-WM in Katar oder als wir den Putin-Protestwagen von Jacques Tilly in die Dortmunder Innenstadt gefahren haben, um ein Zeichen gegen den Angriffskrieg zu setzen. Wenn man Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erreichen will, muss man den Mut haben, forsch zu sein.


Und mit Blick auf den Spitzenverband?

Uwe Hildebrandt:
Beim Spitzenverband haben wir eine besondere Rolle: Zum einen vertreten wir die Interessen unserer Mitglieder. Und zum anderen sind wir Träger von Einrichtungen. Wir sind Anwalt und als Träger ein Teil des Spiels. Wir sind Vermittler und versuchen, auf Ministerien einzuwirken, damit wir unter politischen Rahmenbedingungen arbeiten können, die für die Menschen, die wir betreuen, am besten sind.
Hier brauchen wir Strukturen, um die Kommunikation zwischen den Fachleuten in den Einrichtungen und denjenigen zu optimieren, die Forderungen formulieren, diese bezirksweit abstimmen und als Sprachrohre in die Gremien und Ministerien tragen. So sprechen wir als AWO mit einer Stimme.


Wie genau nimmt das Projekt den Bereich der Sozialunternehmen unter die Lupe?

Uwe Hildebrandt:
Wir wollen nicht anbieten, was keiner will. Wir wollen einige Strukturen renovieren.
Wir haben Werte, die sind unser Fundament, unsere Orientierung. Etwa Solidarität im Alltag zu verankern. Ein Beispiel ist die Tatsache, dass viele Reiche ihre Kinder nur noch auf bestimmte Schulen schicken, um sich abzugrenzen. Solidarität stelle ich aber dadurch her, dass der Sohn vom Maurer und der vom Anwalt zusammen Fußball spielen. Heute bleiben alle lieber unter sich, unter ihresgleichen und das erleben wir auch so in unseren Einrichtungen. Was wäre denn unser Idealbild von einer Gesellschaft? Diese Frage sollte uns den Weg weisen.
Wir wollen ganz genau hinschauen, was wir eigentlich anbieten und wo es Möglichkeiten gibt, in Zukunft mehr anzubieten. Wo sind Felder, von denen wir uns verabschieden werden? Wir nehmen die gesamte Organisationsentwicklung in den Blick.

Michael Scheffler:
Mir ist es noch mal wichtig, zu betonen, dass wir unsere Strukturen als e. V. nicht in Frage stellen. Diese Struktur hat in der Vergangenheit unsere Stärke ausgemacht und sie wird uns auch in die Zukunft tragen.


Wie können sich die Menschen beteiligen? Welche Möglichkeiten der Partizipation bietet das Projekt?

Michael Scheffler:
Erstmal ist es uns wichtig, die ehrenamtlichen Entscheidungsträger vor Ort zu beteiligen und diese im Projekt mitzunehmen.

Uwe Hildebrandt:
Jeder ist beteiligt, von der Ebene Ehrenamt, über die Fachbereiche bis hin zu Querköpfen, Leuten, die über den Tellerrand schauen und kritisch sind. Es sollen lebendige Truppen zusammengestellt werden, die debattieren und die AWO vorantreiben. Wir wissen nicht, was dabei herauskommt.

Michael Scheffler:
Deshalb haben wir uns bewusst dafür entschieden, das Projekt extern moderieren zu lassen (Anm. d. Red.: durch die Unternehmensberatung Contec).  


Wann werden die ersten Maßnahmen erwartet, die sich aus dem Projekt ergeben?

Michael Scheffler:
Wir haben schon einiges auf den Weg gebracht. Etwa den Zusammenschluss zweier Unterbezirke zum UB Ruhr-Lippe-Ems. Das ist eine Erfolgsstory, die wir erhofft haben, aber nicht erwarten konnten. Da stecken viel Engagement und Innovation hinter.
Außerdem haben wir erste Schritte eingeleitet, um die Ortsvereine zu stärken, etwa das Förderprogramm „Wir machen weiter“, die Verschlankung der Satzung, die AWO-App, und die Quizshow „Wetten, dass AWO mitmacht“, die zurzeit durch unsere Ortsvereine tourt.
Wir müssen uns nur auf den Weg machen und gewährleisten, dass unsere fünf Werte transportiert werden.