Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderung

20.11.2009

Die Arbeiterwohlfahrt Bezirk Westliches Westfalen und der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen e.V. (VdW) hatten zur Fachtagung „Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderung" nach Dortmund eingeladen.

Immer wieder WTG: Viele Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, die neue Wohn- und Lebensformen für Menschen mit Behinderungen anbieten oder erproben, stufen das neue Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) zwar als zukunftsweisend ein, sparen aber durchaus nicht mit Kritik. Im Bezug auf die freien Wohnformen tauchen Barrieren auf, die es noch zu überwinden gilt. Das ist ein Fazit des workshops „Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderung".

Es ist ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen. Die Politik für Behinderte hat sich nach Änderung des Grundgesetzes (Artikel 3) gewandelt. Lautete die Diktion der Vergangenheit noch „Verwahren, Wegsperren und Absondern in Heimen" ergreifen die Menschen jetzt anders Partei, da niemand mehr wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Der Reformprozess ist angestoßen, die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege als große Träger der Behindertenhilfe bieten in Kooperation mit Wohnungsbaugesell- oder Genossenschaften passgenaues Wohnen an. Sie stellen sich neuen Herausforderungen - dem „Auszug in ein neues Leben", wie es Petra Gessner, Referatsleiterin der AWO in Dortmund, formuliert.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderungen. Er kontrolliert, dass die Rahmenbedingen für ein selbstbestimmtes Wohnen eingehalten werden und trägt die Kosten für stationäre und ambulante Betreuung. 10 Millionen Euro, dies verriet Matthias Münning, Landesrat beim LWL, sind reserviert für die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für Behinderte. Aber: „Wir müssen die Vorgaben aus dem WTG ableiten." Ein Zwei-Stufen-Plan ist aufgelegt: Zunächst werden alle Mehrbettzimmer (noch 250 in der Region Westfalen-Lippe) abgebaut, im nächsten Schritt die Zweibettzimmer auf einen bestimmten Standard umgebaut. Der LWL zweigt hierfür zusätzliche Mittel aus dem Konjunkturpaket II ab - insgesamt 7 Millionen Euro. „Ich fürchte, wir werden in naher Zeit auch noch stationäre Plätze brauchen - keine zusätzlichen, sondern qualitativ bessere", sagt Münning.

Es gilt: stationäres Wohnen für Behinderte nur - falls erforderlich. War das Verhältnis ambulante - stationäre Unterbringung 2003 im Zuständigkeitsbereich des LWL (8,3 Millionen Einwohner in dieser Region) noch 20 zu 80 Prozent wird es bis 2010 nach dem Umbau 40 zu 60 sein. In einer zweiten Rahmenzielvereinbarung mit dem Land NRW haben sich der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und die westfälischen Verbände der Freien Wohlfahrtspflege zusammen getan, um weitere 500 von derzeit 2300 stationären Plätzen abzubauen. „Geben Sie uns dazu noch etwas mehr Zeit", adressiert Landesrat Matthias Münning diese Bitte an Marc Zabel, Oberregierungsrat beim NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die Laumann-Behörde hat vor genau einem Jahr das umstrittene Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) auf den Weg gebracht und als „Fortschritt für die Sozialpolitik" angepriesen. NRW ist das einzige Land in der Republik, das über ein eigenes Heimrecht verfügt. Das WTG unterscheidet nicht nach stationärer oder ambulanter Betreuung, im Mittelpunkt steht stets der ältere, pflegebedürftige oder behinderte Mensch. Das Gesetz gewährleiste, dies betont Oberregierungsrat Zabel in Dortmund, dass die Menschen in Betreuungseinrichtungen möglichst selbstbestimmt ihren Lebensalltag gestalten und ihre Individualität leben können.

Das Leben der Bewohner in Betreuungseinrichtungen soll sich so weit wie möglich an den Maßstäben eines Lebens wie zu Hause orientieren. 54 Heimaufsichten in NRW wachen darüber, dass alle Vorgaben aus dem WTG eingehalten werden. „Sie stellen den Schutz der Menschen sicher", referiert Zabel. Aber genau diese Rahmenbedingungen stoßen auf heftige Kritik in der Praxis und polarisieren. „Wir differenzieren ganz klar nach Ordnungsrecht (WTG) und Leistungsrecht (SGB)", wirft LWL-Landesrat Matthias Münning ein. Ein Lebenssachverhalt wird somit unter verschiedenen Aspekten bewertet. „Das WTG formuliert Mindeststandards und unterscheidet nicht nach der Qualifizierung für ambulantes und stationäres Wohnen", hält Zabel dagegen. Münning erwidert: „Der Schutzgedanke wird übertrieben, wenn jeder unter Aufsicht gestellt wird." Diese Meinung teilen auch Vertreter der Freien Wohlfahrtverbände und der Wohnungswirtschaft. Selbstbestimmtes Wohnen garantiere eine Zunahme an Lebensqualität. Das werde verhindert, wenn der Gesetzgeber die Durchführung des WTG überstrapaziere.

Die Träger der Einrichtungen unterliegen dem WTG und somit auch dem Prüfrecht. Roswitha Sinz vom Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen (VdW) befürchtet Investitionshemmnisse. „Das WTG behindert die Träger in ihrer Arbeit mit Behinderten, weil es sie reglementiert in ihrer Kreativität." Ein Teilnehmer des workshops rät den Aufsichtsbehörden, „das Rad nicht zu überdrehen und alle Spielarten der Wohnformen in der Behindertenhilfe auszuloten." Oberregierungsrat Marc Zabel reagiert gelassen. „Es besteht doch die Möglichkeit nach § 7, Abs. 5 WTG, eine Befreiung von den Vorschriften zu erwerben." Hier heißt es: „Die zuständige Behörde kann auf Antrag den Betreiber von Anforderungen nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes teilweise befreien, wenn ohne die Befreiung ein besonderes Betreuungskonzept nicht umgesetzt werden kann und hierdurch der Zweck des Gesetzes nicht gefährdet wird."

Darüber sind sich alle Teilnehmer des workshops „Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderungen" einig: Das WTG verlangt von beiden Seiten ein Umdenken und neuen Mut für Entscheidungen. Das Gesetz ist jung, die Anwendung in der Praxis ist allenfalls als Prozess zu bewerten und längst nicht ausgereift. Alle Protagonisten befinden sich aber in einem offenen Dialog. Und in der Praxis werden derweil neue Projekte initiiert. Wie etwa von der Westfalenfleiß GmbH aus Münster, die ein zukunftsweisendes, integratives Wohnvorhaben für behinderte und nicht behinderte Menschen in Münster-Nienberge realisiert. Darüber berichtet Westfalenfleiß-Geschäftsführerin Gerda Fockenbrock an diesem Vormittag in Dortmund. „Wohnen mit der Sicherheit, versorgt zu sein", formuliert es Christa Kolb-Schwenk, Geschäftsführerin des Bau- und Sparvereins Leichlingen. Sie hat im Bergischen Land neue Wohnformen für junge Menschen mit Behinderung ermöglicht. „Barrierefrei vom Keller bis in die Köpfe" lautet die Philosophie von Sabine Seitz. Die Sozialmanagerin vertritt an diesem Tag die GAG Köln Immobilien AG. Die GAG hat in Köln-Niehl ein Wohnprojekt errichtet, das voll in den Stadtteil integriert ist. Bewohner und ihre Angehörigen haben eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts gegründet und „somit die Anwendung des WTG umgangen und sich aus den Fängen des Gesetzes befreit", verrät Sabine Seitz. Frederike Schüle vom Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen e.V. warnt davor, das WTG zu verfluchen. „Das Gesetz dient dem Schutz der Bewohner in Einrichtungen. Wer die Fachkompetenz besitzt, hat gute Argumente gegenüber der Heimaufsicht für die Öffnungsklausel." Das WTG sei ein lernendes Gesetz. „Wir können ihm alle etwas beibringen." Milde Worte zum Schluss, die den Oberregierungsrat Marc Zabel nicht mehr erreichen. Er hat sich vor der Mittagspause bereits wieder Richtung Düsseldorf zu einem weiteren Termin verabschiedet.

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