'Soziale Arbeit und nicht Geschwafel hält die Gesellschaft zusammen'

24.08.2009

Fetzige Musik, bissiger "Geierabend", sozialpolitische Debatten
AWO-Chef Brückers: "Wir sind die größte soziale Bewegung Deutschlands"
Müntefering: "Mitmachen und teilhaben schafft Gesellschaft, nicht die, die sich nur das Maul zerreißen und nicht mal wählen gehen!"
Steinmeier: "Soziale Politik hat eine Mehrheit in unserem Land - sorgen wir dafür, dass es keine schweigende Mehrheit ist!"

Zwei Tage lang hat die AWO ihren 90. Geburtstag mit einem großen Bürgerfest in der Dortmunder Innenstadt gefeiert. Tausende Menschen amüsierten sich mit Leckerem und Lustigem an zahlreichen Info-Ständen rund um die Reinoldikirche. Auf der großen Bühne gab es Rock-Klassiker mit der Under Cover Crew und Dixie-Jazz der Pilspickers und einen "Geierabend Spezial" mit dem bissigen Charme von Ruhrgebietskabarett. Im Dortmunder Rathaus ist noch bis Mittwoch eine multimediale Ausstellung über die 90 bewegten und bewegenden Jahre der AWO zu sehen.

Zugleich, "weil die AWO nicht einfach mal hilft, sondern ein Konzept für Hilfe zur Selbsthilfe hat und die Ursachen sozialer Probleme angeht", wie SPD-Chef Franz Müntefering sagte, stellten die Gliederungen des traditionsreichen Verbandes die Fülle ihre sozialen Angebote "von der Wiege bis zur Bahre" dar und zeigten die Arbeit der mehr als 14 000 AWO-Einrichtungen. "Diese Arbeit, und nicht soziales Geschwafel hält die Gesellschaft zusammen", zitierte AWO Präsident Wilhelm Schmidt in seiner Festrede das Dortmunder Urgestein der Arbeiterwohlfahrt Günter Samtlebe. Im Jubiläumsjahr erarbeitet die AWO einen ihrer vielbeachteten Sozialberichte, diesmal zum Thema "Was hält die Gesellschaft zusammen?".

Einige Antworten waren auf dem Geburtstagsfest zu sehen, hören, spüren: "Vor 90 Jahren hatten die AWO-Gründer die große Idee, dass Solidarität sich organisiert und der Sozialstaat gestaltet werden muss, dass der Gesellschaft nicht mit Almosen und Suppenküchen geholfen wird, sondern mit sozialen Rechten und gleichen Chancen", sagte Müntefering, der betonte, dass er nicht als Wahlkämpfer, sondern als jahrzehntelanges AWO-Mitglied zum Dortmunder Fest kam. Mit einem "mulmigen Gefühl" probierte der SPD-Chef den Erdbebensimulator von AWO International, die weltweit Katastrophenopfern beim Wiederaufbau unterstützt. Falls der politische Schleudersitz es nötig macht, könnte er sich beim AWO Unterbezirk Dortmund einen neuen Stuhl aussuchen: Das Projekt "90 Jahre, 90 Stühle - für eine Gesellschaft, in der jeder einen Platz findet"hat eine großartige Resonanz und sehr originelle Objekte hervorgebracht, die für den guten Zweck versteigert werden.

"Auch wenn die AWO einer der größten sozialen Dienstleister in Deutschland ist, sind wir kein gewöhnlicher Wohlfahrtskonzern", betonte AWO-Chef Rainer Brückers. "Tatsächlich sind wir mit unseren mehr als 400 000 Mitgliedern und mehr als 100 000 ehrenamtlich engagierten Bürgern die größte soziale Bewegung Deutschlands. Denn die AWO gestaltet mit einem klaren Konzept und unerschütterlichen Grundwerten nicht nur Hilfe zur Selbsthilfe bindet mit ihrer sozialen Arbeit Millionen Menschen in die Gesellschaft ein, sondern wir bekämpfen auch die gesellschaftspolitischen Ursachen von Ausgrenzung, Armut und Not."

Konkret forderte SPD-Kanzlerkandidat Frank Walther Steinmeier: "Wir müssen neu denken: Pflegeberufe dürfen nicht die Billig-Jobs des Arbeitsmarktes sein. Deshalb kämpfen wir gemeinsam für Mindestlöhne - aber sie dürfen nicht der Maßstab sein, sondern fairer Lohn für alle!"
Zugleich dankte Steinmeier den "vielen stillen Helden des Alltags", die tagtäglich "unseren Sozialstaat umsetzen und lebendig gestalten, denn dabei geht es ja nicht nur um Gesetze, Formulare und Bewilligungsbescheide, es geht auch um menschliche Zuwendung und Solidarität. Ohne Ihr Engagement wäre unsere Gesellschaft ärmer und kälter - deshalb brauchen wir Sie, brauchen wir die AWO", sagte Steinmeier und freute sich über das dichte Gedrängel und den lauten Beifall auf dem großen Platz rund um die Renoldikirche.

"Machen Sie mit, damit Deutschland menschlicher wird", forderte AWO Präsident Schmidt das Publikum auf. "Wir wollen und müssen uns immer wieder einmischen in die sozialpolitische Gestaltung unserer Gesellschaft", sagte er in seiner Festrede. Dank des Engagements der AWO Mitglieder und ehrenamtlichen Helfern sei es der AWO gelungen, "immer wieder nah an den Menschen zu sein" und als Lobbyverband für die, die sonst keine Lobby haben, "elementare Grundlagen der Sozialgesetzgebung auf den Weg zu bringen". So gilt die AWO als Erfinderin der Pflegeversicherung, die nun in vielen Ländern nachgeahmt wird. Aktuell sei es "nicht zu ertragen, dass inzwischen 7,5 Millionen Menschen von ihrer harten Arbeit nicht leben können - deswegen ist die AWO ein Motor im "Bündnis Mindestlohn" und hat erfolgreich den Mindestlohn in der Pflege auf den Weg gebracht", sagte Schmidt. Angesichts der steigenden Lohnarmut, die zu skandalöser Kinderarmut führt und in Altersarmut mündet, "engagieren wir uns im Bündnis Kindergrundsicherung und kämpfen gegen die Folgen der Bildungsmisere - es ist ein menschlicher Skandal und nicht hinnehmbar, dass jedes Jahr 70 000 junge Menschen ohne Schulabschluss bleiben". Nach all den Sonntagsreden müsse die Politik "endlich alle Einrichtungen für Bildung und Erziehung kostenlos anbieten". Damit die Diskrepanz zwischen Arm und Reich nicht die Gesellschaft zerreißt, "treten wir mit Nachdruck dafür ein, die Sozialversicherung solidarisch zu gestalten und zu einer Bürgerversicherung auszubauen", sagte Schmidt.

"Fortschritt hat immer dazu geführt, dass gequietscht wird", meinte Müntefering, doch unbeeindruckt davon seien in einer solidarischen Gesellschaft "Alle in der Pflicht und alle im Recht, damit niemand sich klein machen muss, wenn er Hilfe braucht." Der SPD-Chef betonte: "Die Menschen sind nicht alle gleich, aber alle sind gleich viel wert." Deshalb sei ein Nationaler Aktionsplan für behinderte Menschen nötig, "wir wollen keine Integration, wir wollen eine inklusive Gesellschaft", sagte Müntefering. "Die Erzieher und Ausbilder müssen endlich die Anerkennung und den Lohn erhalten, den sie verdienen". Der Bund und die Länder müssten mehr für die Kommunen tun, denn der Sozialstaat müsse als Soziale Stadt gestaltet werden. "Eine soziale Gesellschaft ist das, was vor Ort stattfindet - es ist all das, was die AWO macht", sagte Müntefering und genoss den Applaus der großen Menge vor der Reinoldikirche. Er gratulierte der 90jährigen AWO: "Glück auf! Ihr könnt stolz auf Euch sein!"
Zum Schluss betonte Steinmeier gut gelaunt: "Die AWO ist ja nicht irgendeine Organisation, sondern sie ist ein Programm für sozialen Fortschritt. Das rote Herz der AWO ist das Herz der Gesellschaft - wir brauchen es dringender denn je, meine Damen und Herren, wir brauchen Sie!"

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